„Mein Gott. Mein Gott. Warum hast du mich verlassen?“
Zwischen Himmel und Erde hängt er. Unter ihm steht die johlende Menge. Sie triumphieren über ihn. Jetzt haben sie es ihm gezeigt. Er, der über sie alle herrschen sollte, ist doch nur ein Mensch. Man kann ihn brechen.
Alles hatte er ertragen. Mit roher Gewalt haben sie ihn geprügelt, angespuckt, verlacht - er hat es sich nicht anmerken lassen, ob die Schläge, die Verachtung oder der Spott ihn trafen.
Tapfer könnte man sagen. Sie wollten ihn leiden sehen. Er gab ihnen nicht, was sie wollten. Ob das so klug war?
Sein Schweigen hat sie provoziert. Er muss doch Schmerz empfinden. „Vielleicht will er noch mehr?“ - als ob irgendein Mensch jemals Leid und Schmerzen wollte. Er lies sich nicht brechen. In ihrer Wut wurden sie immer höhnischer und brutaler.
Eine Krone aus Dornen steckt in seinem Kopf. Das Blut quillt aus seinen Wunden. Er stöhnt, aber er jammert nicht. Kein Betteln um Gnade, keine Forderung nach Erlösung. Er schweigt und erträgt.
Doch die Folter hat ihn geschwächt. Er spürt seinen Tod kommen und betet den Psalm eines Sterbenden: Mein Gott. Mein Gott. Warum hast du mich verlassen? …
Endlich ein Zeichen der Schwäche. Die Menge tobt und lästert. Keine Erleichterung gönnen sie ihm. Er soll in seiner Einsamkeit leiden. Soll sehen, dass niemand ihn herunterholt. Soll spüren, dass da kein Gott ist der ihm hilft.
Jesus hängt am Kreuz zwischen Himmel und Erde. Herausgehoben aus der Menge. Erhöht über die Menschen. Doch kein Gefühl davon, Gott jetzt näher zu sein. Vor Stunden hatte er noch zu Gott gefleht im Gebet. Im Gespräch mit Gott, seinem Vater. „Lass diesen Kelch an mir vorüber gehen.“ Doch er musste sich fügen. „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“ So hat er es seine Jünger beten gelehrt „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“ Nun ist er daran diesen Willen zu ertragen. Und dieser Wille führt in seine Einsamkeit. Seine Jünger haben ihn nicht verstanden. Auf unterschiedliche Weise haben sie ihn verraten. Nachdem klar war, dass sie nicht gegen ihre Gegner kämpfen können, hielten sie Abstand. Suchten die Ferne, wollten ihm nicht zu nahe sein.
Nun ist er alleine mit seiner Angst und mit seinem Schmerz. Wo ist Gott? Am Kreuz ist niemand mehr an seiner Seite…
„Mein Gott. Mein Gott. Warum hast du mich verlassen?“
In diesen Tagen sind wir einsam. Die Kontaktsperre verhindert, dass wir die Nähe unserer Mitmenschen erfahren. Wir halten Abstand. Die Nähe zu einander bedeutet Gefahr. Eine Gefahr, die wir nicht sehen und nicht greifen können. Doch es ist besser sich nicht zu nahe beieinander aufzuhalten. Enkel dürfen nicht zu ihren Großeltern. Die Spielkameraden können nicht vorbeikommen. Die gesellige Runde abends, im Wohnzimmer, in der Kneipe, gemeinsam Essen gehen, sich für einen Film im Kino verabreden, ins Stadion gehen, wir wollten doch gemeinsam uns das Konzert anhören - alles abgesagt, alles nicht möglich. Haltet Abstand. Bleibt zu Hause. Gemeinsam vor Gott treten und im Gottesdienst Trost und Kraft tanken - verboten. Egal welcher Religion du angehörst. Selbst der letzte Weg ans Grab ist ein einsamer - die Familie alleine. Es waren Verhandlungen über Tage, damit das überhaupt möglich wurde. Gott wo bist du?
Die Kontaktsperre macht einsam. Wir telefonieren. Skypen mit Eltern und Geschwistern. Wir schreiben Briefe. Wir versuchen eine Menge um für einander da zu sein. Wie geht es unseren Nachbarn? Versuchen die Stille zu vertreiben, die in unsere kleine Welt hineindringt. Denn in den Pausen, zwischen Fernsehen, Radio und Telefon, lässt sie sich nicht mehr überhören. Selbst, wenn wir mit unserer Familie nun unsere Tage teilen, kaum einer den das Alleine sein nicht angreift. Gott, wo bist du? In unserer Einsamkeit fragen wir, rufen wir nach ihm. Doch ist schwer zu verstehen, ob da eine Antwort kommt. Du hast doch versprochen immer da zu sein. Wir müssen Abstand halten. Doch das gilt doch nicht für dich Gott. Also zeige dich. Lass uns, lass mich spüren, dass du da bist. Vertreibe du jetzt meine Einsamkeit.
Mein Gott. Mein Gott. Warum hast du mich verlassen?
(Pfarrer Michael Reschke)